In Teil 2 dieser Serie haben wir verschiedene Parameter der HRV kennengelernt, die entsprechend ihrer Berechnung unterschiedliche Information liefern. Wie kommen wir nun mit dieser Auswahl zu einer aussagekräftigen Interpretation unserer Messungen?
RMSSD – der „Industriestandard“ der täglichen HRV-Messung
Wie in Teil 1 dieser Serie beschrieben, spiegelt die HRV unsere Balance zwischen sympathischer und parasympathischer Aktivierung wider – je mehr Jazz, desto entspannter; je mehr Techno, desto angespannter. Wenn einer von zwei Gegenspielern dominiert, unterliegt der andere im gleichen Maße – je mehr Jazz, desto weniger Techno et vice versa.
Der RMSSD (Root Mean Sum of Squared Distance) gibt über seine Berechnungsmethode das Aktivierungsniveau des Parasympathikus an:
- wenn der RMSSD hoch ist, erholen wir uns besser
- wenn der RMSSD niedrig ist, erholen wir uns schlechter
- wenn der RMSSD zu hoch ist, deutet das auf akuten Erholungsbedarf hin (Entzündungen oder Infekte)
- wenn der RMSSD zu niedrig ist, deutet das auf chronischen Stress und systematische Überlastung hin
Für eine Einordnung dieser relativen Ergebnisse brauchen wir nun einen Vergleich – was uns zur nächsten Frage bringt:
Normwerte vs. individueller Trend: was ist ein guter HRV-Wert?
Normwerte der Herzfrequenzvariabilität sind nach wie vor ganz oben in der Hitliste Eurer Anfragen. Daher gleich vorweggenommen und hervorgehoben: HRV-Werte machen nur Sinn in Bezug auf die eigenen vorangegangen Messungen. Der Vergleich von absoluten Werten mit denen von anderen ist damit unsinnig. Selbst innerhalb der gleichen Population, also bei Übereinstimmung in Alter, Wohnort, Trainingszustand usw. gibt es erhebliche Variation der Messwerte – ohne zulässige Schlussfolgerung.
So ergab eine Studie von 2020 (1) in den Niederlanden, wie breit die RMSSD-Werte streuen: von 153.793 Teilnehmern wurden alle mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes, Fettleibigkeit und der Einnahme von Antidepressiva, Betablockern und vagusmodulierenden Mitteln ausgeschlossen, ausserdem alle Messungen mit übermäßigem Rauschen und ektopischen Schlägen. Die Messwerte der 84.722 verbliebenen Kandidaten zeigen, daß Normwerte über alle Altersgruppen keine geeignete Orientierung bieten: so liegt der RMSSD-Wert im Alter von 30-40 Jahren zwischen 8,6 und 161ms, bei über 50-jährigen zwischen unter 5 und über 130ms. Hier die weiteren Referenzwerte der Studie nach Alter und Geschlecht:
Alter | Geschlecht | RMSSD Median (2. und 98. Perzentil) |
---|---|---|
13–14 | Frauen | 66.5 (17.4; 232.2) |
Männer | 67.4 (12.8; 213.0) | |
15–19 | Frauen | 60.7 (12.4; 225.9) |
Männer | 59.9 (9.8; 213.2) | |
20–24 | Frauen | 52.1 (11.3; 205.5) |
Männer | 47.6 (9.6; 174.0) | |
25–29 | Frauen | 47.5 (11.5; 180.7) |
Männer | 42.3 (10.1; 172.7) | |
30–34 | Frauen | 42.3 (11.5; 161.0) |
Männer | 36.9 (10.2; 140.8) | |
35–39 | Frauen | 37.9 (10.8; 141.9) |
Männer | 32.8 (8.6; 123.8) | |
40–44 | Frauen | 33.9 (9.7; 123.7) |
Männer | 29.0 (8.1; 105.5) | |
45–49 | Frauen | 29.2 (8.3; 109.5) |
Männer | 26.0 (7.1; 95.5) | |
50–54 | Frauen | 26.6 (7.5; 96.3) |
Männer | 23.7 (6.7; 87.5) | |
55–59 | Frauen | 22.5 (6.7; 83.6) |
Männer | 21.0 (5.5; 89.5) | |
60–64 | Frauen | 20.5 (5.5; 79.3) |
Männer | 19.1 (4.8; 86.6) | |
65–69 | Frauen | 17.8 (5.0; 83.0) |
Männer | 17.7 (4.87; 110.5) | |
70–74 | Frauen | 18.3 (5.0; 115.8) |
Männer | 16.0 (4.7; 161.9) | |
75+ | Frauen | 16.1 (3.5; 106.2) |
Männer | 14.9 (3.7; 130.3) |
Die Herzfrequenzvariabilität (HRV) verändert sich im Laufe des Lebens und kann ein Indikator für den altersbedingten Gesundheitszustand sein. Im Allgemeinen nimmt die HRV mit dem Alter ab und erreicht im höheren Alter ihren niedrigsten Wert. Dies liegt naheliegenderweise daran, dass mit zunehmendem Alter das autonome Nervensystem weniger flexibel wird und weniger in der Lage ist, sich an Veränderungen anzupassen.
Proprietäre Scores bei Garmin, WHOOP, Oura & Co
Die meisten Smart Watches und Fitness Apps kombinieren die „Pure HRV“ (meist als RMSSD) mit anderen Parametern wie Schlafqualität, Trainingslast, Hauttemperatur, Atemrate usw. in einer normierte Skala (von 1-100 oder 1-10). In den dahinterliegenden, intransparenten Algorithmus zu dieser Kennzahl fliessen neben individuellen Informationen wie Alter, Geschlecht und Gewicht auch die Durchschnittsdaten der jeweiligen Nutzerbasis mit ein. Diese proprietären Scores heissen dann „Readiness“, „Body Battery“ oder missverständlicherweise auch „HRV“ und sollen eine Art Energiekonto für den anstehenden Tag anzeigen. Die damit erreichte Verdichtung und Vereinfachung ist gut gemeint, führt aber leicht zu Fehlinterpretation.
Zum Einen die Gefahr des unzulässigen Vergleichens: nur Ergebnisse standardisierter Berechnungsmethoden mit gleicher statistischer Glättung und auf Basis des gleichen Messprotokolls (RMSSD, morgens, sitzend) sind theoretisch miteinander vergleichbar – also praktisch nur innerhalb des gleichen technischen Setups. Zum Anderen verhindert die Vermischung mit mehreren Messdaten die konsistente Zurückführung auf ursächliche Stressoren und damit die Ableitung zur Optimierung: so ist der Kalorienverbrauch für sich betrachtet ein Indikator für Bewegung, kann aber je nach Intensität der Aktivität die HRV erhöhen oder senken. Die Mischung aus individuellen Messdaten, algorithmischen Schätzungen und demographischen Normwerten verwässert die Aussage über die Erholungsfähigkeit.
Fazit: Längsvergleich statt Quervergleich
Die individuelle Baseline und ein daraus resultierender Korridor ist die richtige Methode, die eigenen HRV-Werte einzuordnen – innerhalb ist alles gut, ausserhalb gibt es einen Grund. Ein Vergleich mit Norm- oder Extremwerten macht keinen Sinn: „je mehr, desto besser“ gilt hier nicht. So gibt es Spitzensportler auf gleichem Niveau mit einem RMSSD von 50ms und 180ms. Die Kunst bzw. lernbare Technik ist, anhand der eigenen HRV-Werte die optimale Balance zwischen Anspannung und Entspannung zu finden – ohne Energieverschwendung einerseits und Überlastung andererseits.
Quellen:
(1) Balewgizie S Tegegne, Tengfei Man, Arie M van Roon, Harold Snieder, Harriëtte Riese, Reference values of heart rate variability from 10-second resting electrocardiograms: the Lifelines Cohort Study, European Journal of Preventive Cardiology, Volume 27, Issue 19, 1 December 2020, Pages 2191–2194, https://doi.org/10.1177/2047487319872567